DIENSTAG, 12.45 UHR

Da ist das gelbe Haus mit dem blauen Dach«, sagte Henning und parkte auf der fast autofreien Straße. Das Haus war von einem großen Grundstück umgeben, ein mittelhoher weißer Holzzaun bot keinen wirklichen Schutz vor Einbrechern. Doch bei genauem Hinsehen entdeckte Henning Videokameras, Bewegungsmelder und Sensoren, die ein unbemerktes Eindringen fast unmöglich machten.

Auf dem Klingelschild stand nur Albertz, der Summer ertönte, ohne dass Henning den Klingelknopf berührt hatte. Sie gingen die etwa zwanzig Meter bis zum Eingang, wo sie von einem grauhaarigen, sehr schlanken Mann empfangen wurden, der Mitte fünfzig oder auch schon Anfang sechzig sein mochte. Er war mittelgroß und hatte eisgraue Augen, mit denen er die Beamten eingehend musterte.

»Sie sind sehr pünktlich, eine Eigenschaft, die ich schätze. Bitte, treten Sie ein und folgen Sie mir.« Sie kamen in eine Bibliothek, Bücherregale an zwei sich gegenüberliegenden Wänden waren bis unter die Decke mit Büchern gefüllt, in der Nähe des Fensters, das einen grandiosen Blick auf den Garten bot, standen ein Tisch und vier grüne Ledersessel mit Nieten am Rückenteil und an den Lehnen. Auf dem Tisch ein Aschenbecher, daneben eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Albertz und setzte sich auf den dem Fenster am nächsten stehenden Sessel. Er nahm sich eine Zigarette und hielt den Beamten die Schachtel hin, doch Henning und Santos lehnten dankend ab. Er zündete sich die Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch zur Seite hin aus.

»Herr Albertz, wieso wollten Sie sich mit uns treffen?«, fragte Henning.

»Geben Sie mir ein paar Sekunden, ich muss erst meine Gedanken sortieren ... Ja, ich bin so weit. Wie ich bereits andeutete, hat ein Ihnen wohlgesinnter Mensch mich kontaktiert und gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Bitte fragen Sie nicht, den Namen werde ich nicht nennen, der tut nichts zur Sache. Sie ermitteln beziehungsweise haben in der Sache Bruhns ermittelt?«

»Ja, aber das dürfte Ihnen ja bekannt sein, sonst säßen wir jetzt nicht hier«, erwiderte Henning mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme, denn die ganze Situation war ihm suspekt.

»Richtig. Mir wurde gesagt, dass Sie absolut vertrauenswürdig seien. Ich möchte die Bestätigung gerne aus Ihrem Mund hören.«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, dass alles, was wir besprechen, unter uns bleibt. Sie können es auch gerne schriftlich haben«, sagte Henning, sein Zynismus war nicht zu überhören.

»Nicht nötig. Ein paar Worte vorab zu meiner Person: Ich heiße Karl Albertz, bin achtundfünfzig und werde aller Voraussicht nach den nächsten Winter nicht mehr erleben, der Krebs hat mich besiegt, aber noch lebe ich und kann meine Zigaretten rauchen, das einzige Vergnügen, das mir geblieben ist. Ich arbeite seit fast dreißig Jahren für den Verfassungsschutz - wenn in den letzten Monaten auch nur noch in gedrosseltem Tempo -, und es gibt wohl kaum etwas, was ich in der Zeit nicht erlebt hätte. So viel zu mir. Wie mir mitgeteilt wurde, ist der Fall Bruhns seit vergangener Nacht offiziell abgeschlossen.« »Da sind Sie richtig informiert«, entgegnete Henning und schlug die Beine übereinander.

»Korrigieren Sie mich, wenn ich es falsch wiedergebe. Es heißt, ein ehemaliger Mitarbeiter habe den Mord an Bruhns und seiner jungen Geliebten begangen.« »Wie ich sehe, sind Sie bestens informiert. Aber das ist vom Verfassungsschutz wohl nicht anders zu erwarten.

Nur zur Ergänzung, falls diese Information noch nicht bis zu Ihnen vorgedrungen sein sollte: Frau Santos und ich waren gestern bei Herrn Weidrich, so heißt dieser ehemalige Mitarbeiter, und wir sind zu hundert Prozent sicher, dass er die Tat unmöglich begangen haben kann. Er war schwerer Alkoholiker, und die kunstvolle Drapierung der Leichen, das wäre nicht sein Ding gewesen, diese Phantasie hätte er niemals aufgebracht, schon gar nicht in seinem permanenten Rauschzustand ...« »Ja, ich habe davon gehört. Lassen Sie mich Ihnen ein paar Informationen zukommen, und unterbrechen Sie mich nur, wenn Sie wirklich wichtige Fragen haben. Und bitte, Herr Henning, sparen Sie sich Ihren Sarkasmus oder Zynismus, weder das eine noch das andere steht Ihnen, denn wahrer Zynismus kommt aus dem tiefsten Innern, und Sie sind kein echter Zyniker ... Nun, ich schweife ab. Sie haben recht mit Ihrer Überzeugung, dass Weidrich nicht der Täter sein kann. Für die Morde an Bruhns und seiner Geliebten zeichnet ein Auftragskiller verantwortlich, der seit über zwei Jahrzehnten weltweit Auftragsmorde ausführt und dabei unzählige Namen verwendet. Zudem verändert er permanent sein Aussehen, er ist, und das ist unbestritten, ein Meister der Verwandlung ...«

»Sie kennen ihn?«, fragte Santos mit kritischem Blick. »Nein, ich bin ihm nie persönlich begegnet, allein die Kontaktaufnahme zu ihm ist recht kompliziert. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, wo er wohnt, es heißt jedoch, dass er eine Wohnung oder ein Haus in Kiel hat. Aber ich gehe davon aus, dass er auf der ganzen Welt zu Hause ist, ein Reisender zwischen den Kontinenten. Seine Auftraggeber kommen in der Regel aus Politik und Wirtschaft, wobei das auch nicht ganz korrekt ist, da - und ich spreche hier von Deutschland - der Verfassungsschutz beauftragt wird, den Kontakt herzustellen ...« »Bitte?«, stieß Henning fassungslos hervor. »Ihre Dienststelle arbeitet mit einem Auftragskiller zusammen?« »Nicht nur mit einem«, erwiderte Albertz gelassen, »aber für besondere Missionen heuern wir diesen einen an. Er ist darüber hinaus für Nachrichtendienste rund um den Globus tätig, unter anderem für den BND. Seine Kunst liegt darin, seine Identität bis heute geheim zu halten und absolut sauber zu arbeiten, wenn man denn bei Mord von >sauber< sprechen kann. Er ist ein Perfektionist und deshalb weltweit gefragt. Offiziell wird er mit internationalem Haftbefehl gesucht, inoffiziell bewegt er sich in einem rechtsfreien Raum, das heißt, man will ihn gar nicht fassen, weil er viel zu wertvoll ist. Aber wie das mit Preziosen so ist, es kann schnell zu einem Wertverfall kommen, und dann wird sich auch dieser Mann nicht mehr vor uns verstecken können. Wir finden jeden, sofern wir das möchten.« Albertz drückte die Zigarette aus und steckte sich gleich eine weitere an, bevor er fortfuhr: »Soweit mir bekannt ist, handelt es sich um eine höchst angesehene Person und damit um jemanden, dem niemand aus seinem näheren und weiteren Umfeld Auftragsmorde zutrauen würde ...«

»Wenn Sie so viel über ihn wissen, dann können Sie mir nicht weismachen, dass Sie ihn nicht kennen«, wandte Santos ein und musterte Albertz, der wieder einen langen Zug nahm und den Rauch durch Mund und Nase ausblies.

»Ich kann Ihre Zweifel nachvollziehen, aber ich bin ihm tatsächlich nie persönlich begegnet, und wenn doch, dann habe ich ihn nicht erkannt. Streichen Sie das Bild des einsamen Wolfs aus Ihrer Vorstellung, es wird gerne für Filme oder Romane verwendet, aber die Realität sieht anders aus. Natürlich gibt es innerhalb des organisierten Verbrechens Auftragskiller, die diesem Klischee entsprechen, aber die arbeiten fast ausschließlich auf der unteren Ebene, wo wir sie gewähren lassen, sofern sie nicht allzu viel Unheil anrichten. Eine Ratte bringt die andere um, wen kümmert's? Außerdem habe ich nie einen Mord in Auftrag gegeben, dafür sind andere bei uns zuständig, deren Namen ich Ihnen aber nicht nennen werde, es ist auch unwesentlich, denn irgendjemand muss ja die Drecksarbeit machen ...«

»Toll«, sagte Henning trocken, »unser Verfassungsschutz und Nachrichtendienst bedienen sich eines Auftragskillers, und Sie tun so, als wäre das ganz normal ...« »Es ist normal, Herr Henning«, antwortete Albertz ruhig. »Unser Geschäft ist schmutziger als das eines Kanalreinigers. Viel schmutziger, aber die Gesellschaft kriegt davon nichts mit, weil es wie so vieles im Geheimen geschieht. Die meisten unserer Mitarbeiter tragen Anzug und Krawatte, treten seriös auf, sind eloquent, sehr gebildet und haben eine harte Schule hinter sich. Wir sind kein Kloster, sondern dienen in erster Linie der Sicherheit des Landes Schleswig-Holstein und insgesamt auch der Bundesrepublik Deutschland. Und dazu zählt nun mal leider auch die Beseitigung bestimmter Personen, die den Interessen des Bundeslandes oder Staates schaden oder schaden könnten. Ersparen Sie mir bitte weitere Erläuterungen, vielleicht ein andermal, denn ich möchte zum Wesentlichen kommen ...« »Bruhns?«

»Unter anderem. Noch kurz zu dem Auftragskiller: Ich kann Ihnen nicht sagen, wo er sich momentan aufhält, aber er ist kein Phantom, er ist so real wie Sie und ich. Ein ganz normaler Mann mit einem etwas ausgefallenen Beruf ...«

»Das klingt geradezu menschenverachtend, Herr Albertz«, konnte sich Santos nicht verkneifen zu sagen. »Für Ihre Ohren vielleicht, aber die ganze Welt ist menschenverachtend bis ins Mark. Jeder Krieg oder Konflikt wird mit Gewalt ausgetragen, und dabei kommen Tausende unschuldiger Menschen ums Leben, darunter Kinder, Jugendliche, Frauen, Alte ... Menschen, die nie jemandem etwas zuleide getan haben. Ein Auftragskiller wie der, von dem wir gerade sprechen, kommt in seiner Laufbahn auf vielleicht zwei- oder dreihundert Opfer, und ich kann Ihnen versichern, es handelt sich zumeist um Personen, die alles andere als Unschuldslämmer sind. So wie Bruhns.«

Albertz stand auf und verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen. Er fasste sich an den Bauch, zog eine Tischschublade hervor und entnahm einen bereits gedrehten Joint, zündete ihn an und sog den Rauch auf. »Sie rauchen Gras?«, stieß Santos hervor, zog die Stirn in Falten und fragte sich, ob sie sich in einem schlechten Film befand.

»Entschuldigen Sie, das hat mir mein Arzt gegen die Schmerzen verordnet. Glauben Sie mir, es hilft. Ich hätte nie im Leben für möglich gehalten, jemals mit Rauschgift zu tun zu haben, aber in meiner Situation tut man alles, um wenigstens den Schmerz zu besiegen, wenn man schon den Krebs nicht besiegen kann. Ich hoffe, es stört Sie nicht ...«

»Nein, nein, überhaupt nicht, ich habe auch schon davon gehört, dass Marihuana in der Schmerztherapie eingesetzt wird.«

»Ja, in der Tat. Wo war ich stehengeblieben? Ah, richtig, bei Bruhns. Er war nicht nur ein äußerst erfolgreicher Musikproduzent, er war zugleich ein angesehenes Mitglied des organisierten Verbrechens. Wir wissen von mehreren Bereichen, in denen er die Finger im Spiel hatte, unter anderem Geldwäsche, Drogen, aber leider auch Kinder. Nachdem er begonnen hatte, seine Pädophilie auszuleben, und nach immer mehr Frischfleisch verlangte, stand er ständig unter unserer Beobachtung. Als wir dann auch noch den Hinweis erhielten, dass er für den Tod eines elf- oder zwölfjährigen Mädchens verantwortlich zeichnete, mussten Mittel ergriffen werden, um wenigstens andere Kinder vor ihm zu schützen ...« »Aber dieses Mädchen hat er vor einem Jahr umgebracht«, warf Henning ein. »Wieso wurde er nicht festgenommen und vor ein ordentliches Gericht gestellt?« Albertz ließ sich mit der Antwort Zeit. »Die Strukturen sind zu komplex, um sie Ihnen in der Kürze der Zeit zu erläutern. Nur so viel: Bruhns wurde zu einem Risikofaktor ...«

»Für wen? Das organisierte Verbrechen oder den Verfassungsschutz?«, fragte Santos mit zusammengekniffenen Augen.

Albertz rauchte seinen Joint zu Ende und entgegnete: »Frau Santos, ich sehe, Sie hören genau zu, das ist selten geworden in der heutigen Zeit, selbst bei der Polizei«, sagte er anerkennend. »Wenn ich Ihnen antworte sowohl als auch, genügt Ihnen das?«

»Vielleicht. Hat Bruhns noch mehr Kinder auf dem Gewissen?«

»Gegenfrage: Was glauben Sie?«

»Mein Gott, was für ein Abgrund ...«

»Ich möchte Ihnen da nicht widersprechen. Lassen Sie mich fortfahren. Nach meinen Informationen standen wir unmittelbar davor, Bruhns jemanden ins Haus zu schicken. Doch ein anderer kam uns zuvor, und wir wissen nicht, wer das ist. Es muss jemand sein, der Protektion von höchster Ebene genießt ...« »Von welcher Ebene sprechen Sie? Verfassungsschutz oder Politik?«, wollte Santos wissen. »Wo ist der Unterschied?«, entgegnete Albertz lächelnd. »Jedenfalls musste aufgrund dieser Protektion ein anderer den Kopf hinhalten. Dieser Weidrich eignete sich geradezu perfekt, um geköpft zu werden. Auch diese Sachen habe ich schon zigmal miterlebt.« »Aber es waren Leute aus unseren Reihen, die ihn umgebracht haben!«, echauffierte sich Santos. »Ja, es war die Art Drecksarbeit, die von kleinen, skrupellosen Typen erledigt wird. An die kommen Sie genauso wenig ran wie an unseren Auftragskiller. Sie haben auch nur auf Anweisung gehandelt, wobei ihr Vorgehen wesentlich transparenter ist als ... Lassen wir das, ich möchte noch etwas anderes ausführen. Ich gebe Ihnen zu bedenken, dass in unseren Gefängnissen nicht wenige Unschuldige schmoren, verurteilt wegen Mordes oder anderer schwerwiegender Delikte, obwohl sie nie einen Mord oder ein anderes Verbrechen begangen haben. Sie wissen so gut wie ich, dass man häufig einen Sündenbock oder auch ein Bauernopfer sucht und auch findet. Im Fall Bruhns war es eben dieser Weidrich gewesen. Weidrich hat keiner Fliege etwas zuleide getan, das wissen Sie, und das weiß ich. Aber Sie wissen auch, dass man die Öffentlichkeit mit Informationen füttern will beziehungsweise muss. Oder man will sie beruhigen. Nein, es hat mit Beruhigung nichts zu tun, eher etwas mit der Befriedigung der Sensationslust. Oder sehen Sie das anders?«

»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte Henning.

»Dann strengen Sie Ihren Kopf an, so wie ich es getan habe, als ich noch jünger und unerfahrener war. Ich gebe Ihnen drei Namen - Westermann, Kobert und Zeunig. Klingelt da was bei Ihnen?«

»Schwach. Warum ausgerechnet die drei?«, sagte Henning, doch Santos fiel ihm ins Wort: »Ich kenne die Fälle sehr gut. Die sitzen alle ein, wenn ich mich recht entsinne.«

»Ja und nein. Ich bin müde und habe keine Lust mehr, diesen verdammten und verlogenen Job noch länger zu machen. Vielleicht kommt mein Krebs ja davon, dass ich zu lange mit dem Dreck zu tun hatte, wer weiß? Aber das spielt nun keine Rolle mehr.« Er verzog den Mund, atmete tief durch und steckte sich eine weitere Zigarette an. »Westermann, Kobert und Zeunig, das waren genau solche Opfer wie Weidrich, mit dem Unterschied, dass sie einen scheinbar ordentlichen und fairen Prozess bekommen haben und man sie nicht gleich umgelegt hat. Jeder von den dreien war wegen Mordes angeklagt, die Opfer kamen aus den allerbesten Kreisen, sprich Geld, Macht, Einfluss und unendlich viel Dreck am Stecken. Bei Westermann war ich sogar dabei, als wir ihn aus der Wohnung holten und getürkte Beweise hinterließen, die ihn so eindeutig belasteten, dass nicht einmal der beste Anwalt der Welt ihn da hätte raushauen können. Es waren reine Schauprozesse, bei denen die Angeklagten nicht den Hauch einer Chance hatten. Ich war bei jedem Prozess vom ersten bis zum letzten Tag anwesend, und ich versichere Ihnen, dort ging nichts mit rechten Dingen zu. Alles war abgesprochen. Die armen Kerle auf der Anklagebank wussten nicht, wie ihnen geschah, alles sprach gegen sie.«

»Und das haben Sie mitgemacht?«

»Ich weiß, Sie werden mich dafür verachten, aber ich hatte so wenig eine Wahl wie die drei. Sagen Sie mir, was hätte ich tun können? Mich gegen Anweisungen auflehnen, die nicht einmal aus der Dienststelle, sondern von noch weiter oben kamen? Ich hatte nicht den Mumm, obwohl oder weil ich schon so lange bei der Truppe war. Außerdem, hätte ich mich aufgelehnt oder wäre ich gar ausgestiegen, was, glauben Sie, hätte man mit mir gemacht? Mich einfach gehen lassen? Vergessen Sie's, wer über so viel Insiderwissen verfügt wie ich, kann sich nicht einfach aus der Familie verabschieden.« Santos meldete sich wieder zu Wort: »Ich kann mich erinnern, dass die Beweise gegen die drei geradezu erdrückend waren ...«

»Frau Santos, machen Sie die Augen auf und glauben Sie nicht alles, was man Ihnen vorsetzt. War ich eben nicht deutlich genug? Keiner von ihnen hatte auch nur die geringste Schuld auf sich geladen, keiner von ihnen war vorbestraft, sie waren das, was man unbescholtene Bürger nennt. Ihr Problem war, sie kannten die Opfer sehr gut, es gab sogenannte Zeugen, die beeideten, dass es Streitereien untereinander gegeben habe et cetera pp. Dass die Zeugen gekauft waren, wussten nur wenige Eingeweihte. Die Angeklagten wurden jeweils zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt. Westermann und Zeunig haben sich vor zwei beziehungsweise drei Jahren im Knast das Leben genommen, das ist jedenfalls die offizielle Version, meine Informationen lauten anders. Sie wurden umgebracht, weil sie keine Ruhe gaben. Kobert ist noch im Gefängnis und hält still, er hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. Dennoch wird er im Knast verrecken, es sei denn, er ist eines Tages so gebrochen, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht, so wird man es zumindest der Öffentlichkeit verkaufen. Die Morde, die man ihnen zur Last gelegt hat, wurden von demselben Mann verübt, der auch Bruhns und dessen Geliebte umgebracht hat. Die Morde geschahen in einem Abstand von nicht einmal einem halben Jahr, aber man brauchte für jeden Mord einen anderen Täter, denn alle drei Morde wurden mit unterschiedlichen Waffen verübt. Es durfte ruhig der nette Mann von nebenan sein, egal, um den ist es ja nicht schade.«

»Das klingt aber sehr nach Verschwörungstheorie ...« Albertz lachte kehlig auf. »Ich habe dreißig Jahre lang mit Verschwörern zusammengearbeitet, ich weiß, wovon ich spreche.«

Santos schürzte die Lippen. »Wenn wir hier schon so offen reden, dann können Sie uns doch bestimmt auch etwas zu den verseuchten Wattestäbchen sagen, oder?« Albertz lachte wieder auf und schüttelte den Kopf. »Frau Santos, glauben Sie an den Weihnachtsmann? Oder den Osterhasen? Falls ja, dann glauben Sie auch, was der Innenminister am Freitag verkündet hat ...« »Ja, aber Bruhns und die Steinbauer wurden doch Ihren Angaben zufolge von einem Auftragskiller getötet. Der hat am Tatort jedoch eine weibliche DNA hinterlassen. Können Sie uns das erklären?«

»Sehr gerne. Mir ist natürlich auch zu Ohren gekommen, dass man die DNA gefunden hat...« »Wie ist Ihnen das zu Ohren gekommen? Es gibt meines Wissens nur zwei Personen, die davon Kenntnis haben.« »Frau Santos, setzen Sie Ihre rosarote Brille ab. Es gibt nicht nur zwei Personen. Ich habe meine Quellen, das muss Ihnen genügen.«

Santos wurde zunehmend nervöser und zugleich wütend, ohne das nach außen zu zeigen. »Aber es wurde doch immer von einer Frau als Täterin gesprochen, bis das mit den verseuchten Wattestäbchen ...« »Ich wiederhole meine Frage: Glauben Sie an den Weihnachtsmann? Oder glauben Sie immer alles, was Sie im Fernsehen sehen oder in der Zeitung lesen?« »Nein, natürlich nicht, ich habe schon bei der Pressekonferenz meine Zweifel angemeldet.«

»Gut, denn die Zweifel sind berechtigt. Ich hoffe, Sie haben sich nicht damit abgefunden, nur kleine Bullen zu sein, die einem Staatsanwalt oder einer noch höheren Autorität wie dem Innenminister bedingungslos zu gehorchen haben. Natürlich verstehe ich, dass man einer Autorität Respekt entgegenbringen sollte, das war immer so und wird immer so sein, sonst wird man den Löwen vorgeworfen. Ich genieße den Vorteil, dass man mich niemandem mehr vorwerfen kann, nur noch der Erde ... Aber ich schweife schon wieder ab, und ich will Ihre Zeit nicht vergeuden. Vergessen Sie alles, was Sie bisher über das Phantom, die unbekannte weibliche Person, die Wattestäbchen und die Latexhandschuhe gehört und gelesen haben. Diese unbekannte weibliche Person hat es nie gegeben, es war nur ein kleines Spielchen, das der Täter bei seinen Morden gespielt hat. Harmlos und doch irgendwie effektiv. Es hat uns natürlich nicht gefallen, aber wir haben ihn gewähren lassen, was hätten wir schon tun können, er ist auch für uns ein Phantom. Dann begannen die Medien, die Sache aufzubauschen und mit wilden Theorien um sich zu werfen, irgendwann hat die Abstimmung zwischen Politik, Polizei und Medien nicht mehr gepasst, also musste eine Lösung gefunden werden. Das Resultat war diese unsägliche Pressekonferenz ... Für die Medien und die Bürger genau das, was sie brauchten.«

»Moment, aber diese DNA wurde doch auch an Orten sichergestellt, wo keine Morde begangen wurden«, warf Henning ein.

»Ja und? Die DNA wurde in Lauben gefunden, in die eingebrochen wurde, an Türrahmen, in einer Schule, in die ebenfalls eingebrochen wurde, dort übrigens an einer Coladose, an diversen anderen Tatorten, wo keine Menschen zu Schaden gekommen sind, aber auch an Tatorten, wo Lieschen Müller ermordet wurde. Man ließ das Gerücht verbreiten, es mit einer Beschaffungstäterin zu tun zu haben, die Geld brauchte, um ihre Drogensucht zu finanzieren. Klingt plausibel, wäre da nicht die unglaubliche Präzision, mit der gewisse Morde ausgeführt würden. Eine Drogensüchtige als kaltblütige, organisiert und planvoll vorgehende Mörderin? Höchst unwahrscheinlich, aber wer macht sich darüber schon Gedanken?« Albertz zündete sich die fünfte Zigarette an, lehnte sich entspannt zurück und fuhr fort: »Hat man die DNA in Lauben, an einer Coladose oder irgendwo sonst gefunden? Was glauben Sie?« »Warum nicht?«, antwortete Santos zögernd. »Ja, warum eigentlich nicht? Haben Sie die Coladose gesehen oder irgendeinen anderen DNA-Beweis? Nein, haben Sie nicht, weil es keinen einzigen dieser Beweise gibt. Pure Erfindung, so wie die getürkten Beweise bei Westermann, Kobert und Zeunig. Die DNA wurde ausschließlich an Tatorten sichergestellt, wo unser Auftragskiller tätig war. Nirgendwo sonst, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Streichen Sie alles aus Ihrem Gedächtnis, was mit dieser DNA zu tun hat, denn wie heißt es so schön: Gebt dem Volk Futter, benutzt dazu die Medien - und schon bald herrscht Ruhe. So läuft es seit Menschengedenken. Oder fragt nach zwei Wochen noch jemand, ob da was nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könnte? Zwei Wochen sind heutzutage eine verdammt lange Zeit, in der so unglaublich viel passiert, da gibt es wahrhaft Wichtigeres als eine solche Lappalie.«

»Aber warum die DNA einer Frau?«, wollte Santos wissen.

»Sein Spiel. Lassen wir ihm doch den Spaß, er ist schließlich ein hochintelligenter Mensch. Wo immer er diese DNA herhat, es ist sein Geheimnis und wird es wohl auch bleiben. Ich bleibe dabei, es ist sein Spiel, und er hat seinen Spaß daran.«

»Er ist ein eiskalter Killer, und Sie bringen das mit Spaß in Verbindung? Das ist nicht Ihr Ernst, oder?« »Sie haben nicht richtig zugehört, wie mir scheint. Sie dürfen ihn nicht mit einem x-beliebigen Mörder vergleichen, denn das ist er nicht. Seine Opfer sind fast ausschließlich Täter, die selbst Menschenleben auf dem Gewissen haben. Womit wir wieder bei Bruhns wären ...« »Und die Steinbauer? Haben Sie auch Informationen über sie?«

»Nein, tut mir leid, aber ich könnte leicht an diese Informationen gelangen, obwohl ich nur noch sporadisch in meinem Büro bin.«

»Warum wollten Sie sich mit uns treffen? Nur, um uns mitzuteilen, dass wir ohnehin nichts ausrichten können? Oder habe ich das falsch verstanden?«, sagte Santos spöttisch.

»Ich habe Sie hergebeten, weil die Person, die mich angerufen hat, sagte, dass Sie zu den guten Bullen gehören und sich nicht so leicht beirren lassen.«

»Danke für das Kompliment, aber das bringt uns keinen Zentimeter weiter. Ich glaube, Sie kennen das Phantom und ...«

»Stopp, Frau Santos! Ich kenne den Mann nicht...« »Woher wissen Sie dann, dass es sich um einen Mann handelt?«

Albertz sah Santos aus seinen eisgrauen Augen an und lächelte versonnen, als er antwortete: »Sie überraschen mich schon wieder. Ich weiß es, das muss Ihnen genügen. Er hinterlässt an den Tatorten eine weibliche DNA, aber es ist ein Mann. Weiß der Geier, woher er die DNA hat. Im Grunde ist das unwichtig.«

»Sie werden uns sicherlich sagen können, wie wir an ihn rankommen, oder?«

»Nein, weil ich nie Kontakt zu ihm aufgenommen habe. Ich habe nur von ihm gehört.«

»Tja, das war's dann wohl. Wir haben jetzt auch von ihm gehört und sind keinen Schritt weiter. Die Schnauze müssen wir trotzdem halten, weil man ja nichts gegen die Oberen sagen darf. Gehen wir, Sören, wir werden wieder mal nur verarscht.«

»Halt, nicht so schnell, junge Frau, ich bin noch nicht ganz fertig. Warum so aufbrausend? Glauben Sie nicht mehr an Wunder? Erinnern Sie sich mal zurück an Ihre Kindheit, da wurde so manches Wunder wahr, oder nicht? Es soll auch heute noch welche geben, auch wenn ich selbst noch keins erlebt habe. Oder ich habe sie nicht als solche erkannt, aber das ist wohl der Pragmatiker in mir. Sei's drum.« Er strich sich mit einer Hand übers Kinn, den Blick leicht gesenkt, und sagte: »Warum sind Sie hier? Das ist eine rhetorische Frage, auf die ich keine Antwort erwarte. Mir wurde gesagt, dass Sie gerne gegen den Strom schwimmen. Ich habe Respekt vor solchen Menschen, denn gegen den Strom zu schwimmen bedeutet, sich nicht nur etwas zu trauen, sondern auch zuzutrauen. Ich gehe davon aus, dass unser Mann sich noch in Kiel oder Umgebung aufhält. Einer, vielleicht auch zwei wissen, ob dem so ist.« Er machte eine Pause und hustete, holte sich einen zweiten Joint aus der Schublade unter der Tischplatte und zündete ihn an. »Finden Sie ihn. Bruhns, Steinbauer, Weidrich, die Fälle gehören zusammen. Finden Sie die Stelle, von der die Anweisungen kommen. Gehen Sie unkonventionell vor, aber weihen Sie unter gar keinen Umständen irgendjemanden in Ihre Pläne ein. Es gibt mit Sicherheit einen Weg, diesen Typen aufzuspüren. Wenn ich noch fit wäre, würde ich helfen, aber mein Körper macht nicht mehr mit. Ich habe Sie nur angetippt, den Rest müssen Sie selbst erledigen. Und wenn Sie's nicht schaffen, wird er irgendwann von allein aufhören. Er ist schon lange im Geschäft, für einen Auftragskiller fast schon zu lange. Jeder hört irgendwann auf, so wie ich. Aber einen Tipp habe ich noch: Setzen Sie sich mit Ihren Kollegen in Frankfurt in Verbindung.« »Warum?«, fragte Santos. »Tun Sie's einfach.« »Und mit wem?«

»K 11, Mordkommission. Die können Ihnen vielleicht weiterhelfen, auch wenn sie's noch nicht wissen. Hier ist eine Telefonnummer, die Dame heißt Julia Durant und ist Hauptkommissarin. Nennen Sie aber bitte nicht meinen Namen.«

»Haben Sie etwas zu verbergen?«

»Nein, ich möchte nur im Moment noch im Hintergrund bleiben. Außerdem kenne ich den Kommissariatsleiter, Herrn Berger, recht gut. Sie sollen nicht wissen, dass ich krank bin.«

»Und die Wattestäbchen?«, fragte Santos noch einmal. »Lüge, nichts als Lüge. Lord Byron hat gesagt: >Was ist im Grunde die Lüge? Doch nur die maskierte Wahrheit.<

Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Sie finden sicher alleine hinaus, ich bin müde und muss mich hinlegen. Dabei hatte ich in meinem Leben noch so viel vor, und jetzt verbringe ich unzählige Stunden im Bett, ich bekomme Bestrahlungen, und mein Körper verfällt immer mehr, auch wenn man mir's nicht ansieht.« »Wir gehen sofort«, sagte Henning und beugte sich vor. »Warum sagen Sie uns nicht alles, was Sie wissen? Warum nur die halbe Wahrheit?«

»Weil ich selbst ein Unwissender bin. Ein paar Stufen höher gibt es welche, die mehr oder sogar alles wissen. Jetzt gehen Sie bitte, ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.« »Wie kommen wir an diese Leute ran?«, ließ Henning nicht locker.

»Gar nicht. Das heißt, es gibt schon Wege, nur, es ist wie in einem Labyrinth, in dem man den richtigen Weg finden muss, um nicht verlorenzugehen. Machen Sie's wie Theseus, nehmen Sie einen Faden, wie er ihn von Ariadne bekommen hat, als er auf der Suche nach dem Minotaurus war. Der Faden hat ihm und seinen Gefährten das Leben gerettet. Es liegt an Ihnen, wagen Sie sich in das Labyrinth, oder wollen Sie so weitermachen wie bisher? Sie können es schaffen, denn das Phantom ist nur ein Mensch. Auf Wiedersehen oder, besser, adieu.« »Warum sollen wir ausgerechnet in Frankfurt anfangen?«, sagte Henning, ohne sich von der Stelle zu rühren. Albertz seufzte auf. »Sie geben wohl nie auf, was? Aber gut, ich will Ihre Hartnäckigkeit honorieren, denn nur so gelangen Sie ans Ziel. Nach meinen Erkenntnissen fing alles in Frankfurt an, meines Wissens 1984. Es begann mit dem Mord an einem Immobilienmogul, der zusammen mit seiner minderjährigen Geliebten, einem jungen Ding aus dem Osten, in seinem Landhaus erschossen wurde.

Auch er pflegte intensive Kontakte zum organisierten Verbrechen, wovon die Öffentlichkeit natürlich nie etwas erfuhr. Von dem Täter fehlt bis heute jede Spur, aber vieles deutet darauf hin, dass seine Frau unser Phantom angeheuert hat, um ihren Mann beseitigen zu lassen. Meinen Informationen zufolge besitzt sie eine Wohnung oder ein Haus in Kiel. Die Parallelen zum Fall Bruhns sind nicht zu übersehen, ich meine, was die Pädophilie betrifft.« »Und der Name der Frau?«

»Ein bisschen Arbeit möchte ich Ihnen schon überlassen. Jetzt verschwinden Sie endlich, ich bin sehr, sehr müde und erschöpft.«

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte Henning und reichte Albertz die Hand.

»Danken Sie nicht mir, danken Sie Ihrem Freund und Gönner. Ohne ihn wären wir uns nie begegnet.« »Ich würde gerne wissen, wer er ist ...« »Das werden Sie noch zur rechten Zeit erfahren.« »Nur noch eine letzte Frage, dann sind wir weg: Wie konnten Sie das alles mit Ihrem Gewissen vereinbaren? Entschuldigen Sie, aber Sie waren in kriminelle Aktivitäten verwickelt oder zumindest eingeweiht. Wie kommt man damit klar, ohne durchzudrehen?« »Sie haben recht, und das werde ich mir nie verzeihen. Aber es ist zu spät, jetzt noch Reue zu zeigen, viel zu spät. Ich hoffe nur, ich konnte Ihnen helfen und damit etwas Gutes tun, bevor ich den Weg alles Irdischen gehe. Auf Wiedersehen.«

Henning und Santos gingen zu ihrem Wagen, der Himmel war grau und trist, es hatte die halbe Nacht über geregnet und gestürmt. Doch weder Henning noch Santos nahmen das wahr, zu sehr hatte sie das Gespräch mit Albertz mitgenommen.

Erst im Auto fragte Santos: »Wer hat Albertz informiert? Wer ist unser Freund und Gönner?« »Interessiert mich nur am Rande. Ich dachte, wir hätten schon in alle Abgründe geblickt, und dann stellt sich mit einem Mal raus, dass es noch viel mehr Abgründe gibt. Das ist mir alles zu viel.«

»Halt an, ich muss noch mal rein«, sagte Santos plötzlich.

»Du kommst da nicht mehr rein, das Haus ist gesichert wie Fort Knox.«

»Lass es mich trotzdem versuchen. Bitte.«

»Was versprichst du dir davon? Aber gut, dein Wille ist mir Befehl.«

Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück, Santos stieg aus und betätigte die Klingel. Es dauerte nur Sekunden, bis sie das Tor aufdrücken konnte. Mit schnellen Schritten lief sie zum Haus, Albertz stand in der Tür, ein mildes, fast väterliches Lächeln auf den Lippen. »Da hat mich meine Menschenkenntnis doch nicht getrogen.«

»Inwiefern?«, fragte Santos verwirrt. »Ich habe Sie die ganze Zeit über beobachtet, auch wenn Sie's vielleicht nicht bemerkt haben, aber ich dachte mir, diese Frau ist neugierig und lässt sich nicht so einfach abspeisen. Bitte, treten Sie ein.«

»Danke«, sagte eine etwas überrumpelte Lisa Santos und spürte, wie sie rot wurde, was Albertz wieder mit einem unergründlichen Lächeln quittierte. »Möchten Sie etwas trinken? Einen Whiskey zur Entspannung oder einen Wodka? Ich werde mir einen genehmigen.«

»Einen Whiskey, auch wenn ich im Dienst bin.« »Mit Eis?«

»Ja, bitte«, antwortete sie und merkte, wie sie ihre Sicherheit zurückgewann.

Albertz gab Eiswürfel in die Gläser, schenkte ein und reichte Santos ein gutgefülltes Glas. Sie drehte es in der Hand, betrachtete den älteren Herrn genau, hob das Glas und sagte: »Cheers, auf Ihr Wohl und Ihre Gesundheit.« Albertz lächelte erneut, diesmal versehen mit einer Prise Spott. »Cheers, und danke für Ihren Wunsch.« Als sie ausgetrunken hatten, sagte Albertz: »Welche Frage wollten Sie mir stellen? Sie sind doch gekommen, weil Ihnen noch etwas auf der Seele brennt. Nichts gegen Ihren Kollegen, aber Sie haben mehr Power und lassen das Ziel nicht aus den Augen.« »Soll ich das als Kompliment auffassen?« »Nehmen Sie's, wie Sie wollen. Fragen Sie.« »Wer beim Verfassungsschutz kennt das Phantom?« »Was glauben Sie mit dieser Information anfangen zu können?«, war die Gegenfrage.

»Da Herr Henning und ich gegen den Strom schwimmen, eine ganze Menge. Denke ich jedenfalls.« Albertz schenkte sich nach, während Santos dankend ablehnte, er drehte ihr den Rücken zu und blieb eine Weile beinahe regungslos stehen. »Niemand kennt das Phantom. Doch«, verbesserte er sich, »es gibt jemanden, der Kontakt zu ihm aufnehmen kann. Wenn ich es Ihnen sage, was werden Sie dann unternehmen?« »Wir werden so diskret und diplomatisch wie nur irgend möglich vorgehen. Wir werden Sie natürlich aus der ganzen Sache raushalten. Wir haben Sie nie getroffen.« Albertz drehte sich abrupt um und musterte Santos kritisch, indem er ihr lange in die Augen blickte, als wollte er ihr Innerstes ergründen. Sie hielt seinem Blick stand. »Wie kommt es, dass ich Ihnen das tatsächlich abnehme?

Hm, es muss wohl daran liegen, dass Sie so unglaublich ehrlich rüberkommen. Das ist mir nicht oft passiert, dass ich ehrlichen Menschen gegenüberstand. Also gut, Sie bekommen den Namen, auch wenn ich mich damit womöglich in Teufels Küche begebe. Bernhard Freier. Wie Sie den Kontakt zu ihm herstellen, will ich gar nicht wissen, Sie haben den Namen nicht von mir, wir sind uns sowieso nie begegnet. Lassen Sie sich gesagt sein, Sie spielen mit Ihrem Leben, wenn Sie auch nur den kleinsten Fehler begehen.«

»Ist er auch beim Verfassungsschutz?«, fragte Santos ungerührt, als hätte sie Albertz' mahnende Worte nicht vernommen. »Ja.«

»Wo, hier in Kiel oder in Berlin?«

»Kiel, er war aber lange in Berlin in beratender Funktion tätig«, sagte Albertz mit sanftem Lächeln. »Als Berater für wen?« »Was glauben Sie denn?«

»Okay, jetzt ist er auf jeden Fall hier. Wissen Sie zufällig auch, wo er wohnt?« »Nein, da muss ich passen.«

»Sie kommen doch an alles ran, auch an Personalakten«, erwiderte Santos lächelnd. »Sie haben uns schon so weit geholfen ...«

»Genau, ich habe Ihnen schon weit mehr geholfen, als ich eigentlich wollte. Aber ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. So, und jetzt trinken Sie bitte noch einen Whiskey mit mir, als kleines Dankeschön für meine Bemühungen.« »Gerne.«

Sie tranken, Santos stellte ihr Glas auf den Tisch und verabschiedete sich, blieb an der Tür jedoch stehen und sagte: »Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel, aber Sie sind nicht krank. Stimmt's?« »Wie kommen Sie darauf?«

»Vielleicht kann ich in die Menschen hineinsehen«, entgegnete sie wieder mit diesem charmanten Lächeln, dem sich Albertz nicht entziehen konnte. »Über diese Gabe verfügen die wenigsten. Ich wünschte, ich besäße diese Gabe. Glückwunsch, Sie werden es weit damit bringen.«

»Ich habe es schon vorhin vermutet. Wenn man beim Verfassungsschutz arbeitet, muss man wohl über schauspielerische Fähigkeiten verfügen. Ich gehe auch davon aus, dass dies nicht Ihr Haus ist...« »Sie verblüffen mich. Aber jetzt sollten Sie besser gehen, denn auch ich muss mich auf den Weg machen. Sie hören von mir.« »Danke.«

Albertz stellte sich ganz dicht vor sie und sagte leise: »Es ist das erste Mal, dass ich jemandem wirklich helfen kann. Es ist ein gutes Gefühl. Ihr Partner wartet auf Sie.« »Mein Partner ist zwar manchmal ein wenig ungeduldig, aber wenn's drauf ankommt, kann er die Ruhe in Person sein. Rufen Sie mich an, wenn Sie die fehlenden Informationen haben. Hier ist meine Karte«, sagte Santos und reichte sie Albertz.

»Ich werde die Karte in Ehren halten, aber ich habe Ihre Nummer bereits. Sie werden die Erste sein, die ich anrufe. Machen Sie's gut.« »Sie ebenfalls.« Santos ging zum Wagen.

»Was hast du so lange da drin gemacht?«, fragte Henning ungehalten. »Du riechst nach Alkohol ...«

»Komm runter. Ich hatte ein paar Fragen an ihn, ich habe ein paar Antworten bekommen, und ja, wir haben ein Glas Whiskey getrunken, weil er mich darum gebeten hat.« »Du bist im Dienst!«

»Mein Gott, jetzt tu nicht päpstlicher als der Papst...« »Was für Antworten?«, fragte Henning, ohne auf die letzte Bemerkung von Santos einzugehen. »Ich war mir vorhin auf einmal sicher, dass Albertz den- oder diejenigen kennt, die den Kontakt zu unserem Phantom herstellen. Und siehe da, er hat mir einen Namen genannt.« »Wer ist es?«

»Bernhard Freier. Nie gehört. Doch etwas über ihn herauszufinden dürfte nicht allzu schwer sein. Außerdem will Albertz sich die Personalakte von Freier beschaffen und auch seine Adresse. Er wird mich irgendwann anrufen.« »Wann, in einem Monat, in einem Jahr?«, erwiderte ein sichtlich beleidigter Henning.

»Was stört dich? Dass ich noch mal bei Albertz drin war und ihm noch was rausleiern konnte oder ...« »Alles stört mich. Die ganze Scheiße geht mir auf den Sack! Dass unser Verfassungsschutz und der BND nicht sauber arbeiten, ist ja nichts Neues, dass sie aber mit Auftragskillern zusammenarbeiten, das ist für mich eine neue Dimension.«

»Für mich auch, aber wir werden zumindest neue Erkenntnisse gewinnen. Vielleicht sogar ein paar Ratten aus ihren Löchern jagen.«

»Optimist. Albertz hat uns doch nur geleimt.« »Seh ich nicht so. Ich habe zum Glück auf meine innere Stimme gehört«, antwortete Santos und vermied es vorerst zu erwähnen, dass Albertz seine Krankheit nur vorgespielt hatte und er über wesentlich mehr Insiderwissen verfügte, als ursprünglich angenommen.

»Dann erklär's mir, damit auch ich Doofkopp es verstehe.«

»Mann, was ist bloß los mit dir? Ist es, weil ich ein paar Minuten mit Albertz allein war? Ist es das?« »Der Mann ist todkrank, was soll mich daran stören? Keine Ahnung, was los ist, ich habe einfach nur schlechte Laune. Ist das ein Wunder?«

»Nein, aber so kommen wir nicht weiter. Kannst du mal an einem Imbiss anhalten, ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Noch was: Albertz ist nicht todkrank, er hat uns nur was vorgespielt.« »Bitte? Das meinst du nicht im Ernst, oder?« »Doch. Er ist kerngesund.«

Henning lachte trocken auf und schüttelte den Kopf. »Da zieht der die Nummer des Todkranken ab, dass er den nächsten Winter nicht mehr erlebt, und ...« »Reg dich wieder ab, er wollte wahrscheinlich nur herausfinden, inwieweit er uns vertrauen kann. Er steht auf unserer Seite.«

»Woher willst du das wissen?«, sagte Henning ironisch. »Wir sind schon so oft aufs Kreuz gelegt worden, ich traue niemandem mehr.«

»Was bleibt uns anderes übrig, als sein Angebot anzunehmen? Hast du einen besseren Vorschlag?« »Leck mich doch«, brummte er. »Weißt du was? Ich schmeiß den ganzen Scheiß hin, was interessiert mich ein Auftragskiller, an den sowieso niemand rankommt, und was interessiert mich der Verfassungsschutz oder ein arroganter Staatsanwalt? Mach du, was du für richtig hältst, aber lass mich da raus.«

»Sören, wie soll ich das denn ohne dich schaffen?«

»Du hast doch Albertz«, sagte er störrisch wie ein alter Esel.

»Ach, komm, nicht so! Ich kann verstehen, dass du sauer oder gekränkt bist, aber das ist kein Grund, alles hinzuschmeißen. Wir schaffen das. Außerdem müssen wir ohnehin erst mal abwarten, was Albertz zu bieten hat.« »Hm«, brummte Henning nur und fuhr vierhundert Meter weiter an den Straßenrand, stieg mit Santos aus und ging auf den Imbisswagen zu. Sie bestellten sich Currywurst mit Pommes frites und Cola, aßen und kamen um zwanzig nach vier im Präsidium an, so dass sie noch ein paar Worte mit Volker Harms wechseln konnten, ohne ihm jedoch von ihrem Besuch bei Albertz zu berichten. Zurzeit war es ganz allein ihr Fall, und Harms schien wenig Interesse daran zu haben, an ihm mitzuwirken. »Was ist eigentlich aus der Gästeliste vom Samstagabend geworden?«, fragte Henning seinen Vorgesetzten. »Ich weiß, der Fall ist offiziell abgeschlossen, aber ...« »Es waren insgesamt zweihundertzwölf geladene Gäste beim Grafen, von denen der größte Teil befragt wurde. Aber wir haben keine Informationen erhalten, die uns in irgendeiner Form weiterhelfen könnten, und, wie schon gesagt, ist der Fall abgeschlossen. Um dich zu beruhigen, der allgemeine Tenor lautet: Bruhns kam gegen elf, er stand für eine Weile im Mittelpunkt und ist gegen Mitternacht wieder gegangen. Die Steinbauer wurde auch einige Male erwähnt, obgleich sie von den meisten Gästen nicht beachtet wurde.«

»Irgendwelche Gäste, die wir kennen?«, wollte Santos wissen.

»Hier, sieh dir die Liste an«, sagte Harms und schob sie über den Tisch.

»Schau«, sagte sie zu Henning und deutete auf einen Namen. »Hans Schmidt. Ich dachte immer, in der High Society würde man besondere Namen tragen.«

»Was ist mit Peter Müller? Oder Gerd Wolfram? Sind auch Allerweltsnamen. Vergiss die Liste«, sagte er und deutete dezent auf seine Uhr. »Wir sollten uns lieber auf den Weg machen.«

»Du meine Güte, das hätte ich ja beinahe vergessen. Tschüs, Volker, wir sehen uns morgen.« »Wohin geht ihr?«

»Frau Bruhns hat uns vorhin angerufen und gebeten, noch mal vorbeizukommen«, log Santos. »Sie hat ziemliche Probleme mit ihrer Haushälterin, ein wahrer Drachen.«

»Und was habt ihr damit zu tun?«

»Das wollen wir ja herausfinden«, entgegnete Santos lächelnd. »Tschüs.«

»Deine Chuzpe möchte ich haben«, sagte Henning, als sie zum Auto gingen.

»Was heißt hier Chuzpe? Hätte ich Volker sagen sollen, dass wir uns mit Günter am Bahnhof treffen, so richtig konspirativ, um mit ihm über die ominöse DNA zu reden?«

»Quatsch, war schon gut so, wie du's gemacht hast.« Sie fuhren zum Hauptbahnhof und stellten sich um kurz vor fünf Uhr neben den Eingang der Drogerie. Es war kalt, der Wind blies kräftig von draußen durch die ständig auf- und zugehenden Türen. Frierend schlugen sie die Kragen ihrer Jacken hoch. Um diese Zeit herrschte reger Betrieb, viele fuhren nach einem Arbeitstag nach Hause in einen der kleineren Orte der Umgebung, nach Rendsburg, Schleswig oder auch nach Husum, Heide oder Flensburg.

Die Minuten vergingen, bald war es Viertel nach fünf, schließlich halb sechs, doch von Tönnies keine Spur. Mehrfach versuchten sie, ihn in seinem Büro und auf seinem Handy zu erreichen, bis sie um sechs enttäuscht aufgaben und den Hauptbahnhof verließen. Durchgefroren und wütend.

»Warum ist er nicht gekommen? Warum geht er nicht ans Telefon?«, fragte Santos mit ratloser Miene »Angst, eine andere Erklärung habe ich nicht.« »Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen.« »Jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand.« »Ich mal nicht den Teufel an die Wand, ich bin nur misstrauisch geworden nach dem, was Albertz uns erzählt hat. Wenn einer vom Verfassungsschutz mir sagt, dass die auch Auftragskiller beschäftigen, gibt es nichts, was ich nicht mehr für möglich halte. Kannst du das nicht verstehen?« »Schon, aber irgendwie ist mir das alles zu viel. Wem soll ich noch glauben?«

»Weidrich, auch wenn er ein Säufer war. Oder Frau Bruhns, die uns auch keine Lügengeschichten auftischen würde. Das Schlimme ist nur, dass ich in unseren Gefilden kaum noch einem trauen kann. Das ist so unglaublich frustrierend. Ich weiß auch nicht, was ich von Albertz halten soll.«

»Vorhin klang das noch ganz anders«, sagte Henning trocken.

»Mag sein, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Albertz ein falsches Spiel mit uns treibt, aber ausschließen können wir es nicht. Ach, ich weiß doch auch nicht.«

Santos, die die Wagenheizung hochgedreht hatte, zog ihr Handy aus der Tasche und rief Jürgens an. Sie wollte bereits auflegen, als er sich meldete. »Hi, ich bin's, Lisa. Können wir mit dir reden?« »Lisa, hör zu, es gibt nichts mehr zu reden, zumindest nichts, was Bruhns oder seinen Mörder betrifft.«

»Hast du Weidrich obduziert?«

»Nein, Rüter hat einen Rechtsmediziner aus Lübeck holen lassen, der zusammen mit einem Kollegen die Obduktion vorgenommen hat.« »Wieso hat man für Weidrich ...«

»Keine Ahnung, und ich will auch nicht darüber sprechen«, antwortete er ungehalten. »Wo bist du jetzt?« »Ich bin im Aufbruch.«

»Wir wären in zwei Minuten bei dir. Bitte, gib uns eine Minute, dann lassen wir dich ein für alle Mal in Ruhe.« »Du gibst wohl nie auf, was? Also gut, kommt vorbei, und das sage ich auch nur, weil nur noch Claudia und ich hier sind. Aber verschwendet nicht meine Zeit, das haben heute schon andere erledigt.«

Santos legte auf und sagte zu Henning: »Rechtsmedizin, drück auf die Tube.« »Ich hab's gehört.«

 

Kaum zwei Minuten später parkten sie vor dem Institut für Rechtsmedizin. Sie klingelten, und Jürgens öffnete. »Los, rein hier«, sagte er und machte rasch die Tür wieder zu. Er ging vor ihnen her in sein Büro und meinte: »Glaubt bloß nicht, dass ich euch helfe ...«

»Wir erwarten von dir keine Hilfe«, antwortete Henning und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Warum seid ihr dann hier?«, fragte Jürgens mit gekräuselter Stirn.

»Um kurz mit dir zu reden, wie ich schon am Telefon sagte«, erwiderte Santos, den Blick auf Jürgens gerichtet, der mit regloser Miene vor ihnen stand, seine Nervosität war gut verborgen - zumindest für diejenigen, die nicht über Santos' Intuition und Menschenkenntnis verfügten.

Selbst Henning war unsicher, was er von Jürgens' Zustand halten sollte.

»Schießt los, aber haltet euch kurz. Claudia und ich haben noch was vor, schließlich ist uns das Wochenende gründlich vermiest worden.«

»Kein Problem. Warum hast du Weidrich nicht obduziert?«

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht darüber sprechen will ...«

»Willst du nicht, oder darfst du nicht? Hat man dir einen Maulkorb verpasst?«

Jürgens lachte gequält auf. »Such dir was raus, es wird schon passen. Dieser gottverdammte Sumpf! Ich kann und ich darf nicht, bitte versteh das.« »Tu ich. Aber wovor oder vor wem hast du solche Angst? Du brauchst keine Sorge zu haben, dass wir mit deinen Infos hausieren gehen. Du weißt doch, dass du dich auf unser Wort verlassen kannst.«

»Natürlich. Außerdem habe ich keine Angst, das geht mir nur alles auf den Keks.«

»Was denn? Mensch, Klaus, wir konnten doch bisher über alles reden, warum jetzt auf einmal nicht mehr?« »Okay, ich sag's nur einmal, und dann will ich von euch nichts mehr sehen und hören, bis über alles, was mit Bruhns und Weidrich und diesem ganzen Dreck zu tun hat, Gras gewachsen ist. Ich darf mit euch eigentlich überhaupt nicht sprechen, aber ich tu's, weil wir Freunde sind und es hoffentlich auch bleiben.«

»Wir sind und bleiben Freunde. Aber sag uns bitte, was hier heute los war. Sören und ich behalten es für uns, heiliges Ehrenwort.«

Jürgens verzog den Mund und schüttelte leicht den Kopf. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete: »Also gut, doch wehe, einer von euch bricht dieses Ehrenwort, dann gnade euch Gott. Ich habe Anweisungen erhalten, sämtliche Obduktionsergebnisse Bruhns betreffend herauszugeben und sie aus dem Computer zu löschen. Das heißt, es kam jemand vorbei, den ich nie zuvor gesehen habe, und hat das mit dem Rechner für mich erledigt. Ich habe keine Daten mehr über Bruhns.« »Von wem kam diese Anweisung? Rüter?« »Kein Kommentar. Heute Nacht wurde Weidrich eingeliefert, aber ich bekam sofort die Order, mich da rauszuhalten. Ich habe nicht nachgefragt, weil mein Bauch mir sagte, dass Fragenstellen in dem Fall gefährlich sein könnte. Also wurde die Obduktion an Weidrich von zwei Kollegen aus Lübeck durchgeführt. Rüter war als Staatsanwalt anwesend. Mehr weiß ich nicht, die beiden Typen sind gekommen und nach vier Stunden wieder gegangen, ohne dass wir auch nur ein Wort miteinander gewechselt haben. Das war schon höchst seltsam.« Santos warf Henning einen Blick zu, der nickte nur. »Das passt zu dem, was wir über Bruhns in Erfahrung bringen konnten. Wir sind ja offiziell genauso raus wie du, aber wir machen trotzdem weiter, was du hoffentlich auch für dich behältst.«

»Ihr könnt machen, was ihr wollt, solange ihr mich da raushaltet. Ich möchte noch ein bisschen leben, jetzt, wo ich mit Claudia zusammen bin. Scheiße, Mann, ich wüsste auch zu gerne, was hier abgeht, aber das werde ich wohl nie erfahren. So, und jetzt mach ich Feierabend, ihr könnt euch gerne bei mir melden, aber keinen Ton mehr über Bruhns und Konsorten. Einverstanden?« »Einverstanden. Mach's gut und mach dir nicht zu viele Gedanken, es reicht schon, wenn wir das übernehmen«, sagte Santos lächelnd.

»Passt nur gut auf, dass ihr nicht den Falschen auf die Füße tretet. Ach ja, da war doch noch was: Meine Kollegen aus Lübeck habe ich nie zuvor gesehen, obwohl ich die meisten Rechtsmediziner in Norddeutschland persönlich recht gut kenne, auch die aus Lübeck. Aber Rüter hat gesagt, sie sind aus Lübeck, also kommen sie aus Lübeck. Nach euch!« Jürgens verließ hinter Henning und Santos das Büro, schloss es ab und gab Claudia, die geduldig im Sektionssaal gewartet hatte, das Zeichen zum Aufbruch.

»Eins noch«, sagte Santos, »hast du heute mit Günter gesprochen?« »Nein.«

»Komisch. Er wollte sich um fünf mit uns am Hauptbahnhof treffen. Ich habe versucht, ihn im Büro und auf seinem Handy zu erreichen, Fehlanzeige.« »Das ist ungewöhnlich. Sorry, aber ich weiß nicht, wo er sein könnte.«

»Dann probieren wir's mal bei ihm zu Hause. Hast du seine Nummer?«

»Ja, warte, in meinem Handy. Hier«, sagte Jürgens und hielt ihr das Display hin, sie tippte die Nummer in ihr Handy und wartete. Eine Frauenstimme meldete sich mit »Tönnies«.

»Santos, Kripo Kiel. Frau Tönnies, ist Ihr Mann zu sprechen?«

»Nein, heute nicht. Er ist krank und liegt im Bett. Kann ich etwas ausrichten?«

»Nein, vielen Dank. Wann wird er denn zurück im Dienst sein?«

»Das kann ich nicht sagen, er hat wieder einmal Probleme mit dem Herzen und braucht absolute Ruhe. Es ist auch möglich, dass er in die Klinik geht.«

»Dann wünschen Sie ihm gute Besserung von Lisa Santos und Sören Henning und auch von Professor Jürgens. Er soll sich schonen.«

»Das mach ich, danke schön. Auf Wiederhören.« Santos sah Jürgens an und fragte: »Wusstest du von seiner Herzkrankheit?«

»Nein, ist mir neu. Er sah auch nie so aus, als hätte er was mit dem Herzen. Macht euch euren eigenen Reim drauf. Ciao.«

»Bis bald«, sagte Santos und ging mit Henning zum Auto. Auf der Fahrt ließen sie den Tag Revue passieren. Je länger sie darüber sprachen, desto größer wurde die Anspannung. Irgendwann sagte Henning: »Lisa, wir sollten den Rat von Volker und Klaus annehmen und die Finger davon lassen. Wir begeben uns nur unnötig in Gefahr. An den Zuständen in diesem Land können wir beide nichts ändern. Oder siehst du das anders?«

»Ich bin davon überzeugt, dass ich die Gefahr recht gut einschätzen kann, und weiß, wann ich aufhören muss. Es geht um Albertz. Ich will wissen, welche Informationen er noch für uns hat. Falls er sich nicht mehr meldet, hören wir auf. Oder wir setzen uns vorher mit den Frankfurtern in Verbindung, und wenn die uns auch nicht weiterhelfen können, ist wirklich Schluss.«

»Du hast doch aber einen Namen von Albertz bekommen.«

»Richtig. Bernhard Freier. Es wird schwierig sein, an ihn ranzukommen, aber einen Versuch ist es wert.«

 

Zu Hause drehte Santos als Erstes die Heizung auf. Dann schaltete sie den Fernseher ein und zappte sich durch die Programme, bis sie bei einem Spielfilm hängenblieb.

»Du kannst jetzt fernsehen?«, fragte Henning verwundert.

»Reine Ablenkung. Wenn ich die ganze Zeit nur an den Fall denke, dreh ich durch.« »Ich geh zu Bett, ich bin hundemüde.« »Jetzt schon? Es ist gerade mal kurz nach acht.« »Na und? Ich bin total erledigt und brauche ein bisschen Schlaf. Gute Nacht, und bleib nicht zu lange auf.« »Ich komm später nach, ich bin noch zu aufgedreht.« Henning beugte sich zu ihr, gab ihr einen Kuss und streichelte ihr durchs Haar, was sie normalerweise nicht mochte, doch jetzt am Abend, wo sie nicht mehr nach draußen musste, war ihr gleich, wie ihr Haar aussah. »Gute Nacht. Träum was Süßes«, sagte sie. »Ich will nur schlafen. Gute Nacht. Und versprich mir, nicht mehr zu lange zu machen.« »Versprochen.«

Sie legte sich auf das Sofa. Sie bekam kaum mit, worum es in dem Film ging. Ihre Gedanken waren bei Albertz, Jürgens, Harms, aber auch bei Sören, der in letzter Zeit seinen Biss verloren zu haben schien. Er wirkte oft melancholisch, hin und wieder sogar depressiv, ohne dass er darüber sprach. Doch sie war schon so lange mit ihm zusammen, dass sie jede noch so kleine Veränderung bemerkte. Es war, als hätte dieser Beruf ihn im Laufe der Jahre allmählich von innen zerfressen, als raube er ihm die Seele. Langsam, still und unbemerkt. Hinzu kamen die langjährigen und mittlerweile größtenteils ausgeräumten privaten Probleme, die an ihm genagt hatten. Viel war in seinem Leben schiefgelaufen, und nun schien die Zeit gekommen, da er nicht mehr konnte. Noch waren sie ein gutes Team, er der Pragmatiker und Analytiker, sie der Bauchmensch. Eine perfekte Kombination.

Sie hoffte inständig, er würde eines Tages nicht so enden wie Volker Harms, als Dienststellenleiter, festgeklebt auf seinem Schreibtischstuhl, und Dienst nur nach Vorschrift machen, obwohl Harms ihnen viele Freiheiten gewährte. Dennoch würde sie einen solchen Sören Henning nicht ertragen, dazu war ihr spanisches Temperament zu dominant. Aber vielleicht bildete sie sich manches auch ein, möglicherweise war es nur eine Phase, die Henning durchlebte. Morgen würden sie sich um Bernhard Freier kümmern und darauf hoffen, dass Albertz sich noch einmal meldete. Er war der Strohhalm, an den sie sich klammerten, um herauszufinden, was wirklich hinter dem Fall Bruhns und Steinbauer steckte. Und sie würden sich mit den Kollegen der Frankfurter Mordkommission in Verbindung setzen, um den Namen des Immobilienmoguls herauszufinden, der in den Achtzigern zusammen mit seiner minderjährigen Gespielin ermordet worden war.

Die folgenden Tage würden arbeitsreich und nervenaufreibend werden. Sie schloss die Augen und versuchte, sich von den Gedanken zu befreien. Sie schlief ein und wachte erst auf, als Henning sie um sieben Uhr sanft an der Schulter fasste und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Sie gab einen knurrenden Laut von sich, drehte sich zur Seite, Henning legte seinen Kopf an ihren, bis sie endgültig erwachte. Sie umarmte ihn und sagte mit müder Stimme: »Ich wollte doch gar nicht hier auf der Couch schlafen.«

»Wie lange warst du noch wach?« »Weiß nicht.« »Zwei, drei?«

»Nerv mich nicht, ich weiß es nicht mehr. Außerdem habe ich Hunger und muss mal ganz dringend wohin. Machst du uns Frühstück? Ich habe Appetit auf ein Ei.«

»Geh ins Bad, ich kümmere mich um den Rest. Wir haben einen langen Tag vor uns.« »Hm.«

 

Eisige Naehe
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